Lebenslauf

Rückblick auf mein Leben von 1919 bis 1949

von Herbert Hoffmann

ein Glückspilz

Es gibt so viel Not, Hunger und Elend auf der Welt, doch ich hatte das grosse Glück, eine liebevolle Stiefmutter und einen strengen aber gerechten Vater zu haben.
Weil die Mutter bald verstarb und der Vater mit seinem Beruf und Geschäft, mit  3 Buben von 9, 8 und 4 Jahren und dazu mich als Baby hoffnungslos überfordert war, wollte er mich  - so erzählter er später – in einen mit Steinen beschwerten Sack stecken und im nahen See ertränken- doch hätte er es vergessen. Kaum das Licht der Welt erblickt, hatte ich das Glück am Leben geblieben zu sein.
Mit der Stiefmutter kamen noch ein Halbbruder und eine Halbschwester hinzu und so genoss ich mit 5 Geschwistern eine unbeschwerte Kindheit und eine solide Schulbildung in Berlin-Charlottenburg. Mein Onkel war um 1930 in Anbetracht der damaligen grossen Arbeitslosigkeit dagegen, dass ich zur höheren Schule gehe, weil auch Studenten und Akademiker brotlos und arbeitslos waren. Er meinte, dass ich Mathematik und Fremdsprachen nie im Leben gebrauchen würde.
Als ich 11 Jahre alt war und mir ein Fahrrad wünschte, lehnte die Tante ab. Als ich auf einen Klassenkameraden verwies, der ein Fahrrad besass, sagte sie:
„Du musst nicht auf die wenigen sehen, die mehr haben als du, du sollst auf die vielen Menschen sehen, die weniger haben als du!“
Das war ein weises Wort, das mich mein Leben lang begleitet hat. So blieb ich immer zufrieden mit dem, was ich hatte und lebte fortan immer genügsam und ausserordentlich sparsam, half aber stets den Bedürftigen. Niemals im Leben kannte ich Neid und Missgunst auf Wohlhabende oder Besserverdienende; ich gönnte  ihnen den Wohlstand von ganzem Herzen und dachte: Jedes Haus hat sein Kreuz, wer weiss, welche Nöte auch die Reichen haben mögen.
Mit vierzehn Jahren kam ich aus der Schule. Der Nachbarssohn, Werner Schulz, war von Kindheit an mein Spielgefährte.  Im Gegensatz zu uns, hatte er immer Taschengeld. So kam er mit Zigaretten und animierte meinen jüngeren Bruder und mich zum Rauchen. Meine wirklich gute Stiefmutter hatte es erfahren. Sie schimpfte nicht, sondern nahm mich ins Gebet und sagte: „Bedenke mal, wie viel andere Leute in ihrem Leben Geld für Zigaretten ausgeben, dafür kannst du dir ein Haus kaufen!“
Wie recht hatte sie, und ich nahm es mir zu Herzen und habe nie begonnen zu rauchen. Als bei der Wehrmacht Zigaretten zur täglichen Verpflegungszuteilung gehörten, bestanden andere - bis dahin Nichtraucher – auf diese Zuteilung und begannen zu rauchen. Ich verschenkte meine Zigaretten. Kurz vor Kriegsende suchte ein stark abhängiger Raucher überall nach Zigaretten. Er bot mir den Tausch einer Literflasche Lebertran, den die anderen verschmähten, gegen meine Zigaretten an. Ich nahm jeden Tag davon ein und der Vorrat reichte gerade bis zur Kapitulation. In sowjetischer Kriegsgefangenschaft  hungerten wir, doch ich überstand den Hunger besser als die anderen. Von den Nikotinabhängigen überlebten nicht sehr viele.
Auf Drängen meines Onkels hatte der Vater schon 1930, vier Jahre im Voraus für mich einen Vertrag zur  Bäckerlehre abgeschlossen, damit nur kein Müssiggang aufkomme, denn


Müssiggang ist aller Laster Anfang

sagt die Volksweisheit. Der Vater entliess mich in die Fremde mit den Worten: „Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Komme mir nicht mit Klagen!“ Als er nach drei Monaten erfuhr,
wie ich behandelt, zum Teil misshandelt worden war, muss er über seinen eigenen Schatten gesprungen sein: ungeachtet der drohenden Konventionalstrafe nahm er mich sofort aus der Lehre. Für seinen Sinn für Gerechtigkeit danke ich ihm Tag für Tag mein ganzes Leben lang.
Ich durfte mir einen anderen Lehrberuf wünschen und begann eine dreijährige Lehre in Stettin zum Einzelhandelskaufmann. Von 848 Prüflingen bestand ich 1938 die Kaufmannsgehilfenprüfung vor der Industrie- und Handelskammer in Stettin mit nur einem anderen mit dem Prädikat „Mit Auszeichnung!“
Bis 1939 blieb ich als Kaufmannsgehilfe in der Lehrfirma und genoss volles Vertrauen
des Chefs und erhielt monatlich 50,-- RM, statt die tariflichen 15,-- RM.
Dann kam die Einberufung zur Reichsarbeitsdienstpflicht zum 1. April 1939. Von frühmorgens bis nach Mitternacht wurden wir gescheucht und schikaniert, und alle fluchten: „Wenn diese Sch….. bloss erst zu Ende geht, und wir zur Wehrmacht kommen!“  Jeden Tag und jede Nacht neue Schikane, doch allzu langsam ging die verhasste Zeit zu Ende. Der Einberufungsbefehl lag zu Hause schon auf dem Tisch. Es gab kein Entrinnen, keine Drückebergerei.
Ich kam zur Fernsprechkompanie und dann zur Infanteriedivision 122. Der Krieg war  im Gange. Truppenübungsplatz Gross-Born. Sehr strenger Dienst und kein Urlaub. Dann folgte ein Fussmarsch durch Pommern, West- und Ostpreussen bis zur Memel. Was sollten wir da?
Wir fielen aus allen Wolken, als am 22. Juni 1941 der Russlandfeldzug befohlen wurde.
Auf dem Marsch durchs Baltikum im Juli hatte ich die Vision eines Gefallenenkreuzes mit dem Namen meines Bruders. Er war in unserm Abschnitt bei der 18. mot. Division.  Im September 1941 kam aus der Heimat ein Feldpostbrief mit der Nachricht, dass er bei Tichwin gefallen ist. Ich bekam einen Tag frei, und dann stand ich vor einem Holzkreuz mit seinem Namen, genau so wie ich es vor meinem geistigen Auge zehn Wochen zuvor gesehen.
An der Newa waren wir mehr als tausend Kilometer weit in einem fremden Land. Mir taten die Menschen leid, die so arm waren und nun auch Hunger litten. Heimlich konnte ich einigen zu essen geben. Doch im fremden, grossen Land wollte ich auch die Menschen verstehen. Von zu Hause liess ich mir per Feldpostpäckchen ein Lehrbuch „1000 Worte Russisch“ schicken und begann autodidaktisch Russisch zu lernen, die kyrillischen Buchstaben lesen und schreiben und zu sprechen. Zur Kommunikation suchte ich immer russische Familien auf. Sie waren unsagbar ärmlich gekleidet, wohnten in verwanzten Blockhäusern und lebten unvorstellbar primitiv. Es gab nichts zu kaufen, denn es gab keine Geschäfte, sondern nur ehemals staatliche Magazine, aber die waren leer. Meine bescheidenen Gaben nahmen sie dankbar entgegen und halfen mir, mein Russisch zu verbessern.
Die X. Armee von General Seydlitz war in den Waldaihöhen (wo die Wolga entspringt) eingekesselt. Im Frühjahr 1942 wurden wir in den Raum Staraja Russa – südlich vom Ilmensee – verlegt. Von dort brachen die 121., unsere 122., die 123. und die 290. Division den Kessel von Westen her auf und öffneten eine schmale Verbindung von ca. 5 Km Breite. Durch diesen Schlauch, der fortwährend unter Artilleriebeschuss lag, mussten ein ganzes Jahr hindurch mehr als 13 Divisionen und Verbände mit Nachschub versorgt werden.
Nach 21 Monaten erhielt ich im Mai 1942 den ersten Fronturlaub: 40 Km Fussmarsch bis Tuleblja, dann mit der schmalspurigen Feldbahn zur Urlaubersammelstelle in Dno, dann schleichende Bahnfahrt in Güterwagen über Porchow, Pleskau, Riga bis Wirballen. Dort Entlausung und am nächsten Tage in vorbestimmten Personenzügen über Dirschau, Kreuz und Stargard. Nach vier Reisetagen gelangte ich zu Hause an – noch immer mit Läusen.
Die Eltern waren völlig verändert. Sie litten sehr unter dem Tod meines Bruders und waren von diesem Schicksalsschlag schwer gezeichnet. Hinzu kam die Ungewissheit, wer von den anderen vier Söhnen wiederkommen wird. Ihre Bedrückung spiegelte das traurige Gesicht wider. Der Vater duldete kein Lachen mehr. Der Fronturlaub war traurig. Lange Abende sassen wir um den grossen Tisch herum, um gemeinsam die Zuteilungsmarken für Lebensmittel usw. zu sortieren und auf grosse Bogen zu kleben. Nach diesen abzuliefernden Bogen mit aufgeklebten Marken erfolgte die Berechnung für weitere Lebensmittelzuteilungen. Diese Marken waren wertvoller als Geld, denn für Geld gab es nichts mehr zu kaufen.
Auf gleichen umständlichen und sehr weiten Wegen musste ich zur Einheit im Kessel von Demjansk zurück. Deutsche und russische Wachtposten wurden wechselseitig ‚geklaut’,um sie über Stellungen und Kompaniestärken auszuhorchen. Die U2 – wir nannten sie wegen ihrer Langsamkeit und ihres Fluggeräusches „lahme Ente“ - flog jeden Nacht niedrig über unsere Stellungen hinweg und bombardierte jedes verdächtige Objekt; direkt neben unserm Erdloch mit einer Decke aus Baumstämmen ging eine Bombe nieder und zerstörte alle Fernsprechverbindungen. Gegen den dunklen Nachthimmel waren die Flieger nicht zu sehen, aber von oben konnten die Piloten jede kleine Spur im Schnee erkennen. Diese U2 wurden nur nachts eingesetzt und haben uns schrecklich viel zugesetzt. Wir waren gegen sie wehrlos und
verzogen uns in einen Wald, mussten dort für die Offiziere Erdbunker bauen und für die Mannschaften kleine Blockhütten. Das Thermometer ging auf unter 50 Grad minus. Leere Benzinfässer wurden zu Öfen umfunktioniert. Aus Kleidersammlungen in der Heimat bekamen wir Wollsachen, Ohrenschützer, Handschuhe und Mäntel, denn auf einen Winterkrieg war die Heeresleitung nicht eingestellt. Es gab viele Erfrierungen, weil die Sommerkleidung völlig unzureichend war.
Die Stellungen waren nicht gegen die Übermacht der Roten Armee zu halten. Im tiefsten Winter, im Februar 1943 wurden alle Divisionen der X. Armee durch den schmalen Schlauch mit der „Himmel-Arsch- und Wolkenbruch-Brücke, die Pioniere über die breite Schlucht des Lowatflusses gebaut hatten – hindurch geschleust. 
Unsere schwer angeschlagene 122. Infanterie-Division wurde im April 1943 aus der Front genommen und kam zur Auffrischung in das Dorf Mal-Witonj am Ilmensee und schon begann von neuem der Kasernenhofton, Appelle und Unteroffiziersunterricht über Kasernen-, Kleider- und Spindordnung. Eine Gruppe „Frontvarietè“ vergnügte die Offiziere. Wir wurden auf die verwanzten Blockhäuser verteilt; die russischen Bewohner mussten derweil ihre Saunahütten bewohnen, doch kamen sie zum Saubermachen und zum Kochen ins Haus.
Einmal monatlich gab es „Marketenderware“ mit  sehr viel Schnaps und etwas Schokacola, die sehr gut schmeckte. Alle die keinen Dienst hatten, mussten sich zusammensetzen und die Batterie Korn- und Wacholderschnaps vertilgen. Wer nicht mitmachen wollte, war eine Memme und wurde zum Aussenseiter gestempelt. Es blieb nichts anderes übrig, als „mit den Wölfen zu heulen“. Ich bemerkte, wie der alte russische Hausbewohner – wahrscheinlich sehnsüchtig um die Ecke schaute. Weil ich weiss, dass die Russen auch gar zu gern Schnaps trinken, und wir im Überfluss hatten, sagte ich zum Zugführer, dass wir ihm doch auch davon abgeben sollten. Empört wurde es von allen abgelehnt.
Während der ‚Absetzbewegung’ aus dem Kessel von Demjansk gab es keine Möglichkeit zum gemeinsamen Umtrunk; jeder bekam eine Flasche Schnaps zugeteilt. Ich wollte meine Flasche im Urlaub mit nach Hause nehmen. Ich nahm sie aus meinem Tornister und brachte sie dem alten Manne. Er sagte mir – natürlich auf Russisch – dass ich dann doch gemeinsam mit ihm trinken möge. Ich wollte und konnte es nicht ausschlagen, setzte mich mit ihm an den Tisch in der Küche, und wir tranken. Doch schon kam mein Korporal und machte mir eine
Szene. Ich gab ihm Widerworte; da lief er zum Kompaniechef  und machte Meldung. Ich musste im ‚Grossen Dienstanzug’ antanzen. „Sie lassen sich mit den Russen ein! Ich verbiete Ihnen ein für allemal mit Russen zu sprechen. Eigentlich müsste ich Sie mit 3 Tagen geschärften Arrest bestrafen, doch will ich es mit diesem Verweis bewenden lassen!“
Im Suff wurde laut gegröhlt; die Köpfe und Gemüter wurden hitzig, und wenn die Flaschen geleert waren, waren alle restlos betrunken. Tagelang hatte man einen Brummschädel, und aus dieser Gemeinschaft gab es kein Entrinnen – ausser dem Tod.
Die Division musste wieder an die Front. Ich war nächster Anwärter auf Fronturlaub. Auf der Schreibstube konnte ich die Urlaubspapiere schon erhalten, doch hatte ich noch drei Tage Zeit. Die Division war abgerückt, und kein Soldat mehr im Dorf, ausser mir. Der alte Mann bot mir an, in seinem Hause zu bleiben und zu übernachten. Am nächsten Tage fragte er mich, ob ich zum Fischen an den Ilmensee mitgehen möchte. Drei Russen und ich – Stahlhelm, Gasmaske und Knarre hatte ich zurück gelassen – gingen am Abend zum Ufer, stiegen in einen Nachen, legten Netze aus und schlugen mit Stangen aufs Wasser, um Fische ins Netz zu treiben. Der Fang war mager und die Nacht vorbei. Auf den feuchten Wiesenboden legten sie ihre Schubas (rohe Pelzmäntel) zum Schlafen. Als ich erwachte, hing ein Wasserkessel mit gekochten Fischen über einem kleinen Lagerfeuer. Ich wunderte mich, woher sie Holz genommen, denn weit und breit war kein Baum, kein Strauch zu sehen und auch kein Strandgut. Gemeinsam verzehrten wir die frischen Fische und gingen sorglos heim.
Wie leichtsinnig und unüberlegt mein Verhalten war, ist mir erst viel später bewusst geworden. Von den Russen befürchtete ich nichts, aber wehe, wenn die „Kettenhunde“. die Feldgendarmerie, mich aufgespürt hätten, und ich vors Kriegsgericht gekommen wäre! Es gab nur drakonische Strafen für Feigheit vor dem Feinde, vor unerlaubtes Entfernen von der Truppe unter Zurücklassung der Waffen.
Was habe ich da wieder ein grosses Glück und wie viele Schutzengel gehabt?
Wieder die lange Bahnfahrt zur Heimat. In diesem zweiten Fronturlaub fuhr ich nach Stettin, um Tätowierte zu sehen. Um nicht jeden Uniformierten von Polizei, Wehrmacht, SS, Partei usw. grüssen zu müssen, legte ich verbotenerweise Zivilkleidung an. Am Bollwerk waren tätowierte Hafenarbeiter bei ihrer körperlich schweren Arbeit, doch konnte ich sie nicht sprechen, ganz nahe jedoch sah ich einen hünenhaften Mann mit tätowierten Händen. Ihm sagte ich, dass ich auch gern tätowiert sein möchte, und ob er mir sagen könne, wo ich mich tätowieren lassen kann. Vor ihm stand ich: junger Mann in Zivil und – verdächtig - nicht in Uniform – das konnte doch nur ein Spitzel sein, wird er gedacht haben. Er antwortete knapp: „ich bin gerade erst aus dem KZ gekommen, ich will nicht wieder dahin“, drehte sich um und liess mich stehen.
Die wenigen Urlaubstage vergingen gar zu schnell, und jeden Abend wieder mussten in stundenlanger Arbeit die Lebensmittelmarken auf die Bogen geklebt werden.
Der Abreisetag kam. Der Zug war genau bestimmt. Die Mutter und die Tante begleiteten mich abends im Zuge bis Stargard. Wir sassen viele, viele lange Stunden im kalten Wartesaal bis der bestimmte Zug gegen 3 Uhr in der Dunkelheit ankam. Die Mutter und die Tante mussten noch Stunden warten bis der erste Zug sie nach Freienwalde zurück brachte. Es war ein tränenreicher Abschied, doch ich ahnte nicht, dass es ein Abschied für immer war, denn als ich nach Jahren aus der Kriegsgefangenschaft kam, waren sie bei der Vertreibung aus der Heimat gestorben.
Lydia, die die frühere Haushaltshilfe ersetzen musste, gab mir Grüsse auf und Geschenke für ihre Tante in Grodno. Ich brachte sie – heimlich – der Tante. Sie war sehr lieb, und ich durfte bei ihr im Hause übernachten. Doch am Morgen musste ich fort und mich bei meiner Kompanie zurück melden: „Gefreiter Hoffmann aus dem Urlaub zurück!“ und der Krieg ging weiter:
bei Staraja Russa die Front „begradigt“, dann verlegt zum nächsten Brennpunkt Newel im Raume Witebsk, „siegreiche Absetzbewegungen“, die Division wird nördlich vom Peipussee  vor Narwa eingesetzt. Überall harte Kämpfe mit Panzern und Stalinorgeln bis zur Erschlaffung auf beiden Seiten der Fronten. Die Division wird in Reval (Talinn) nach Finnland eingeschifft und an der Karelienfront bei Wiborg (Vipurii) erneut eingesetzt.  Marschall Mannerheim schliesst im Sommer 1944 Separatfrieden mit der Sowjetunion, und unsere Division wird wieder auf Schiffen nach Reval zurück befördert und sofort an der gefährdeten Front vor Pleskau (Pskow) eingesetzt. Danach beginnt der Rückzug durch Livland, das zwischen Pleskau, Dünaburg (Daugavpils) und Riga gelegen ist.
Den 19. September 1944 in Livland kann ich nicht vergessen: Dichter Morgennebel. In zwei schnell gegrabenen Erdlöchern seitlich der wichtigen Strasse liegt eine Gruppe Grenadiere des Infanterie-Regiments 409. Sie soll die Stellung halten. Auf der Strasse rollt eine Kolonne T 34 (Panzerelite der Roten Armee) an. Das Maschinengewehr der Grenadiere hat Ladehemmung. Der Truppführer will sie beseitigen und wird schwer verwundet. Die Panzer sind vorbei. Die Soldaten schlagen sich im Nebel seitlich zur Nachbargruppe durch. Der Verwundete ruft: „Nehmt mich mit und lasst mich nicht in die Hände der Russen fallen!“ Sie schleppen ihn mit und wollen ihn zum Hauptverbandsplatz bringen. Aus dem Morgennebel taucht plötzlich der Armeestab auf. Die Grenadiere „bauen Männchen“ und melden: „Gruppe Fürstenau mit dem Verwundeten auf dem Wege zum Hauptverbandsplatz!“ General Schörner befiehlt sie zum Divisionsstab. Dort angekommen, werden ihnen die Karabiner abgenommen. Dann werden sie in einen Stall gesperrt.
Mein Kamerad Armin Wilke wird als Beisitzer um 20 Uhr zum Kriegsgericht beordert.
Mein Dienst am Klappenschrank ist von 20 bis 24 Uhr. Um 20:15 Uhr fallen die Klappen. Der Kriegsgerichtsrat verlangt den Armeerichter; der Ia den Ia des Armeekorps, der Divisionskommandeur den Ia der Armee. Ich höre, wie sie vortragen: „Man kann das Urteil nicht übers Knie brechen, es sind alles blutjunge frontunerfahrene Soldaten, der Truppführer verwundet  und Fürstenau mit EK II, EK I, Verwundeten-Nahkampfspange, Infanterie-Sturmabzeichen und Deutschem Kreuz in Gold verdient ausgezeichnet, usw.“ Lakonische Antwort an den Kriegsrichter: “Wenn Sie dazu nicht imstande sind, dann müssen Sie abgelöst werden!“ und zum Divisionskommadeur General Fangohr: „Sie wissen doch, was der OB (General Schörner) befohlen hat!“
Arnim Wilke erzählt mir danach: die Vernehmung der Angeklagten hatte knapp 15 Minuten gedauert. Alle sahen ein, dass die Grenadiere sich nicht schuldig gemacht haben. Nach der Telefonpause trat das Kriegsgericht zusammen, die Grenadiere mussten Stahlhelme aufsetzen und stehend ihre Urteile hören: „Fürstenau wegen Feigheit vor dem Feinde zum Tode verurteilt! Unteroffizier …. wegen Feigheit vor dem Feinde zum Tode verurteilt!  Grenadier …… wegen Feigheit vor dem Feinde zum Tode verurteilt…“ Jeder dieser acht Grenadiere müsste dieses, sein Urteil anhören. Dann wurden sie abgeführt und wieder eingesperrt. Im Dunkel des nicht begonnenen Morgens wurden sie von Soldaten der Stabskompanie nur mit Strümpfen und Pullover bekleidet irgendwo erschossen.
Die „Absetzbewegungen“ gehen weiter, vorbei an Riga und Mitau (Jelgava) nach Kurland.
Es folgen sechs schwere Winterschlachten zwischen Libau und Tuckums. Die Kompanien sind ausgeblutet und aufgerieben. Soldatenklau geht um, um jeden Schreibstubenhengst und Küchenbullen an die Front zu schicken. Aus der Heimat kommt kein Nahschub und kein neues „Kanonenfutter“.
Am 7. Mai spät abends Appell; ein Armeebefehl wird verlesen, nach dem eine Meldung des Radiosenders Oslo über eine angebliche Kapitulation unwahr sei und die Weiterverbreitung durch Kriegsgerichtsurteil geahndet wird.
Am Morgen des 8. Mai erneuter Appell mit neuem und letztem Armeebefehl: „ die Kurlandarmee kapituliert!“. Ab 13 Uhr darf nicht mehr geschossen werden. Ab dann sind die Befehle der Roten Armee zu befolgen!“
Ich habe das kriegerische Massenmorden in Russland vom ersten Tage (22. Juni 1941) bis zum letzten Tage (8. Mai 1945) - mit mehr als nur viel Glück - überlebt. Ich muss tausend Schutzengel und mehr gehabt haben, denen ich dankbar bin.
Doch von Erleichterung und Freude keine Spur. Ich dachte an die „Armee hinter Stacheldraht“ in Sibirien nach dem ersten Kriege, von denen kaum einer überlebt hatte. Was wird uns und mir nun bevorstehen? Vielleicht ein gleiches Schicksal mit Hunger- und Kältetod in Russlands Unendlichkeit?
Die Gewehre waren zu viert zusammengestellt. Die Rotarmisten kommen, beachten die Waffen überhaupt nicht; wir müssen antreten, und sie fordern Uhren, Ringe, Gold- und Silberschmuck ein - mit „Tschass jest“ (Uhr ist). Wer Uhr und Schmuck verstecken wollte, wurde geschlagen. Rasch breche ich das Armband von meiner Uhr und stecke sie in den Mund. Zwanzig mal und mehr wiederholt sich diese Prozedur, die sich weiter auf „Knobelbecher“(die Lederstiefel der Wehrmachtsangehörigen), auf noch gute Kleidungsstücke, Feldflaschen, Brotbeutel, Koppel, Rasierapparate und alle persönlichen Dinge ausdehnt. Jeder Rotarmist will Beute machen; manche haben bis zu 20 Uhren auf ihre Arme gestreift.
Nach drei Tagen müssen wir uns zu einer Fünfer-Marschkolonne formieren, die sich träge fortbewegt von Rotarmisten an allen Seiten eskortiert.  Mehrmals wird Halt geboten und Gruppen von jeweils 50 Kriegsgefangenen werden auf eine Waldlichtung geführt. Dort müssen wir uns im Abstand von 50 Metern einzeln aufstellen und sich völlig entkleiden. Die Rotarmisten suchen gründlichst in allen Kleidungsstücken nach weiterer Beute und finden immer wieder etwas zum Mitnehmen.
Mit in der Kolonne sind Hilfswillige, einstige Rotarmisten, die in Wehrmachtsuniform bei den Kompanien Hilfsdienste verrichtet hatten und die Küchenbullen, Schuster und Schneider der Kompanien ersetzten, die an die Front geschickt waren. Diese Hilfswilligen werden heraus gefischt und von Rotarmisten in den Wald geführt. Wir hörten die Schüsse, und die Ärmsten kamen nicht zurück.  
Als die Nacht einbricht, werden wir zum Schlafen auf eine Wiese geschickt, doch sie ist zu nass, als dass wir uns niederlegen können. Unausgeruht geht am nächsten Morgen der Marsch weiter. Zu Essen gibt es nichts. Nach 5 Tagen erreichen wir Riga. Viele sind fusskrank, da jetzt ohne Schuhwerk - alle müde und ausgemergelt. Es ist Pfingstsonntag. Menschen säumen den Strassenrand. Plötzlich ruft jemand: „ein Lied!“ und alle reissen sich zusammen, richten sich – trotz Ermattung - auf und singen deutsche Soldatenlieder bis wir das Hauptlager 277 erreichen. Die Strassen hallen vom Gesang wider, der wohl ein allerletztes Aufbäumen ist. Die Rotarmisten können es nicht verhindern, doch die am Strassenrand stehenden Letten sind begeistert und winken uns zu.
Einige hundert oder tausend Soldaten retteten sich von der kurländischen Küste mit Booten nach Schweden. Drei Monate später werden sie ausgeliefert und treffen in unseren Gefangenenlagern ein. Sie hatten es in schwedischer Internierung sehr gut. Vor ihrer Auslieferung an die Sowjet-Union hatten sich einige mit einem Beil die Hand oder den Fuss abgeschlagen und sich selbst verstümmelt. Vergeblich, auch sie wurden ausgeliefert.
Wir kommen in ein Lager mit grossen, überfüllten Baracken, mit Stacheldrahtverhauen umgeben. Zuerst werden wir kahlgeschoren – überall. Dann werden wir registriert mit Familiennamen, Vornamen des Vaters, eigenem Vornamen, Geburtsdatum und –ort. Irgendwie gelange ich an eine leere Konservenbüchse. Man bekommt sie gut halb voll mit ‚Suppe’, doch die ist lediglich heisses Wasser. Dreistöckig sind die Pritschen in den Holzbaracken auf die wir uns zusammendrücken müssen. Es ist so eng, dass man nur auf einer Seite liegen kann. Wehe, wenn man sich umdrehen muss! Man muss in diesen Regalen ausharren, denn die schmalen Gänge sind auch überfüllt.
Der Morgenappell dauert Stunden; das Zählen der Gefangenen gelingt nicht oft. Wir sollen täglich dreimal Suppe, 600 g. Brot und 5 g. Zucker bekommen. Die angebliche Suppe ist ohne Fett und ohne Inhalt, nur heisses Wasser. Brot gibt es an sehr vielen Tagen nicht, weil angeblich keines da ist, und wenn, dann ist es klitschig und schwer und schmeckt immer nach Benzin oder Dieselöl. Später  - als ich bei der Autobasis war – erlebe ich, dass für die Lagerbäckerei das alte Motorenöl geholt wurde, um damit die Brotformen zu fetten.
In der Lagerbäckerei wird das Brot mit zu wenig Mehl und viel Wasser, mitunter auch mit kleinen, ganzen Kartoffeln in Formen gebacken. Ohne die Formen würde es zu einem Fladen verlaufen. 600 g. Brot bekommen wir nie, meistens nur 200 bis 300 g nasses, schweres Backwerk, so bleibt der Hunger als ständiger Begleiter.
Jenseits des Stacheldrahtverhaues kommen lettische Frauen und Mädchen und werfen – trotz Drohungen der Posten auf den Wachttürmen mit ihren Maschinengewehren im Anschlag - Brot und Essbares in hohem Bogen ins Lager. Bei 13 000 Lagerinsassen ist das nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Die lettische Bevölkerung ist uns wohl gesonnen und will uns helfen.
Täglich fährt ein Wagen in den Lagerhof, um die Verstorbenen der letzten Nacht – es sind durchschnittlich 30 bis 40 Tote - aufzuladen. Es sind nur hautüberzogene Knochengerippe, die nackt auf den Wagen geworfen werden. Ich habe nie erfahren, wohin sie gebracht werden. 
Es werden Arbeitskommandos zusammengestellt, Torf- und weitere Arbeitslager eingerichtet, wohin jeweils einige hundert oder tausend Gefangene abgestellt werden. Ich komme zu einem Holzkommando. Ein Zug mit 52 Güterwagen ist unsere mobile Unterkunfts- und Arbeitsstätte, dazu ein Waggon mit Wachkommando und Küche und zwei zugesperrte Waggons für je 40 Gefangene, ausgestattet mit je einem viereckigen Blechrohr nach draussen, und einer Öffnung von 15 m 15 cm, um alle Art Notdurft zu verrichten. Wasser gibt es nicht. Irgendwo in einem Walde hält der Zug und der russische Kommandoführer, Starschina Iwanoff, lässt erklären, dass er Verpflegung nur für drei Tage habe. Wir sollen den Zug innerhalb dieser drei Tage beladen, danach gibt es nichts zu essen.
Es ist ein sehr heisser Junitag. Im Walde lagert gestapeltes Brennholz, das wir zum Zuge tragen und es aufladen müssen. Unser Sprecher fragt am ersten Abend den russischen Kommandoführer, ob wir nicht besser in der kühlen Nacht arbeiten und am heissen Tage ruhen dürften.
Er ist einverstanden, und wir arbeiten die Nacht durch. Als es zwischen 8 und 9 Uhr wieder sehr heiss wird und wir ausruhen wollen, erklärt der Starschina (Unteroffizier), dass wir nun noch die restlichen 12 Waggons beladen müssen und danach ausruhen können. Gegen 17 Uhr ist es geschafft. Verschmutzt und verschwitzt müssen wir in die Waggons: sie werden verriegelt, und ab geht sie Fahrt zum Entladen der Zugladung.
Den ganzen Güterzug in zwei Tagen zu beladen wird zur Norm erklärt, und fortan müssen wir über die Kräfte arbeiten. Viele halten es nicht durch, sind entkräftet und werden durch andere Gefangene aus dem Lager ersetzt. Durchschnittlich sind es jede Woche ein Viertel des Arbeitskommandos, das ausgewechselt wird. Ich erkenne, dass keiner weiss, wie lange unsere Gefangenschaft dauern wird, sie aber bei dieser Leistungsforderung nicht überleben können. Ich verlangsame mein Arbeitstempo und rate es auch anderen an. Als unser Sprecher davon erfährt, denunziert er mich beim russischen Kommandoführer, und ich soll dafür ins Straflager kommen. Mit dem nächsten Krankentransport werde auch ich ins Lager geschickt.
Dank der erlernten russischen Sprachkenntnisse kann ich unterwegs dem Starschina sagen, dass auch ich gesundheitliche Probleme habe, und dass er mich auch im Lazarett abliefern möchte. Er tut es, und so bleibt mir das mörderische Straflager erspart. 
Im Lazarett lerne ich Rudolf Huber kennen und er erfährt, dass ich Russisch lesen und schreiben kann. Er gibt mir eine Beschreibung, wo im grossen, menschenüberfüllten Lager ich ihn finden kann. Nach der Lazarettzeit suche ich ihn auf, und er veranlasst, dass ich mit dem Arbeitskommando STAB gehe.
Ich stehe dort herum; keiner weiss von mir. Ich sehe, wie die Russen dort frieren. Ich heize ihnen die Öfen, putze ihre Stiefel und versuche, mich ihnen persönlich nützlich zu machen.
Sie gewöhnen sich an mich und an die Bequemlichkeiten.
Nach drei Wochen kommt der Starschije Lieutenant (Oberleutnant) Gerber und bringt mir ein Buch mit den Worten:  Goffmann, in dieses Kniga trägst Du laufend ein, welche Maschine mit welchem Chauffeur wann rausfährt und wann sie wieder zurück kommt. Dank dessen, dass ich meine Uhr durch das Versteck im Mund gerettet habe, kann ich das ausführen.
Nach und nach bringt er mir weitere und neue Aufgaben. So habe ich das Glück, mich allmählich in die Buchhaltungsart hinein zu finden.
Im folgenden Jahre werden die beiden lettischen Hauptlager 277 und 317 vereint, weil viele tausend Kriegsgefangene weiter nach Russland und Sibirien transportiert worden waren. Die beiden Transportabteilungen werden zu einer Autobasis und einer Remonte (Reparatur-)basis zusammen gefasst.
Major Davidoff wird mein Chef. Er ist sehr pünktlich und morgens erster auf dem Hofe und gibt präzise und klare Anweisungen. Nur mir gegenüber ist er kurz und barsch. Mein Arbeitsplatz ist in seinem Büro. Ich habe Fahrbefehle  für alle Laster und Dienstwagen auszufertigen und abzurechnen.
Einmal reklamierte die Buchhalterin, Fräulein Hejfitz: „Herbert, was haben Sie denn hier geschrieben? Wie kommen Sie darauf?“ „Der Major hat es mir so gesagt.“  Sie geht zum Major und fragt ihn. Er liest den Fahrbefehl und fängt laut zu lachen an. Es sind noch viele andere russische Chauffeure im Raum, und alle stürzen sich zum Schreibtisch, lesen über die Schulter des Majors und lachen los. Nur ich weiss nicht, warum alle so lachen. Später frage ich die Buchhalterin. Ich hatte als Grund der Fahrt und Art der Ladung - nach den Worten des Majors: „schreib’ Bordak“ – angegeben.  Ich bitte Fräulein Heyfiz mir zu erklären und sie sagt in bestem Deutsch wörtlich: “Bordak ist ein Haus mit verkäuflichen Frauen!“ So war dieser Fahrbefehl durch viele Hände gegangen, wurde von vielen Verkehrspolizisten x-mal geprüft, von den Leitern der Transporte unterschrieben, und keiner hat das bemerkt.
Ich sitze mit dem Rücken zur Tür. Eines Tages verstummen plötzlich die vielen Gespräche der anwesenden russischen Chauffeure. Ich drehe mich um und sehe, dass der Major und alle aufgestanden waren. Ein höherer Offizier war eingetreten. Zum Major sagt er: „Schicken Sie den Mann sofort ins Lager!“ Als er fort ist, sagt der Major: “Goffmann, du hast den Befehl gehört; packe deine Sachen!“ Ein Posten bringt mich ins Lager.
Nach einer Woche werde ich ans Lagertor gerufen. Der Posten bringt mich zur Autobasis zurück. Major Dawidoff sagt: „Goffmann, du musst hier weitermachen. Richte dir ein Schrottauto zur Schreibstube ein. Wenn aber der Offizier aufkreuzt, dann musst du verschwinden und dich nicht blicken lassen!“ Es ist der Aufbau eines Sanitätsautos der deutschen Wehrmacht.
Eng wie in einem U-Boot haben wir vier Schlafkojen eingebaut, für den ehemaligen Hauptmann Hermann Lauer, der die Remontbasis befehligt, für zwei Kraftfahrer und für mich.
Hinter dem Sankaaufbau befindet sich ein Bretterzaun zum unbebauten Nachbargrundstück. Ich löse zwei Bretter zum Fluchtweg ins Versteck. Gleichzeitig dient er mir auch als geheimer Weg zu lettischen Familien, die mir freundschaftlich zugetan sind. Wann immer die „Luft rein ist“, laufe ich auf dunklen Wegen zu ihnen, von denen ich auch zu essen bekomme. 
Im nahen Hafengelände sehe ich drei Arbeiter, alle tätowiert. Letten, sie sprechen deutsch: Ich bewundere ihre Tätowierungen auf Brust, Armen und Händen. Sie laden mich ein, und ich besuche sie bald. Ein Nachbar kommt hinzu. Er geht mit mir zu seinem Boot im Schilf, wo er sich auszieht und mir zeigt, dass er vom Hals bis zum Fuss tätowiert ist. Ich staune.
Leider ist der Weg zu ihnen recht weit, so dass ich nur selten wiederkommen kann. Auf dem Wege dahin befindet sich eine Bucht der Düna mit Holzflössen; am Ufer lagern Stämme, In der Wachbude steht ein alter Mann, auch er ist tätowiert. Angezogen mit schmuddeliger Stepphose und noch schmuddeligerer Steppweste gehe ich zu ihm, grüsse auf Russisch und sage, dass ich Freude habe, seine Tätowierungen zu sehen. Er antwortet mir in perfektem Deutsch.
Er ist sehr freundlich, zeigt mir auch mit Stolz seine weiteren Tätowierungen auf Armen, Brust und Rücken und sagt, dass ich ihn wieder besuchen kommen möge.
Wann immer der Arbeitstag zu Ende und Offiziere und Chauffeure fort sind. schleiche ich mich zum Wächter. Er heisst Gustav Wulf und ist Baltendeutscher, 70 Jahre alt, da ohne Rente verdient er sich als Nachtwächter auf dem Holzlagerplatz wenige Rubel. Seine Frau muss auch arbeiten, Sohn Gustav ist technischer Zeichner in einer Fabrik und Tochter  arbeitet in einem Magazin. Das Familieneinkommen reicht knapp für Wohnung und Verpflegung. Sie leben sehr ärmlich.
Der Wächter erzählt aus seinem Leben. In jungen Jahren war er auf russischen Handelsschiffen noch unter Segeln gefahren. Die Mannschaft zählte über 100 Matrosen und Leute. In der Freizeit wurde viel tätowiert, und Gustav liess sich auf seinen Rücken ein Segelschiff und eine am Ufer auf den auf den ankommenden Mann wartende Frau mit erhobenen Armen tätowieren, die ein inzwischen geborenes Kind dem Vater entgegen streckte. Auch Brust, Arme und beide Hände hat Gustav tätowiert. Ich bewundere ihn und kann mich nicht satt sehen an seinen Tätowierunngen. Er solle mich bitte auch tätowieren; er will es auch, doch waren weder Tusche noch Nadeln aufzutreiben, und so wird es leider nichts. Eine seiner Tätowierungen – Glaube, Liebe Hoffnung = Kreuz, Herz, Anker – präge ich mir ein, damit ich sie mir später auch so tätowieren lasse.
Gustav nimmt mich zu seiner Familie mit; die Wohnung ist sehr karg, die Familie sehr arm. Weil russische Angestellte aus dem Magazin Ware geklaut hatten, es aber abstritten und die Schuld den beiden Lettinnen zuwiesen, soll die Tochter 230 Rubel bezahlen. Die Familie hat kein Geld und Gustav weint. Sparsam, wie ich immer bin, bin ich sogar in der Kriegsgefangenschaft zu etwas Geld gekommen, und ich bin glücklich, dass ich damit der Familie Wulf helfen kann.
Gustav bietet mir das DU an, doch naiv und dumm wie ich mal bin, sage ich ihm, dass es mir Grünschnabel doch nicht zusteht und es respektlos sei, ihn, den ehrwürdigen alten Herrn zu duzen, der doch mein Grossvater hätte sein können. So entsteht die merkwürdige Situation, das er zu mir DU sagt und ich ‚Herr Wulf’ zu ihm sage.
Ich musste erst reifer werden, um zu erkennen, dass wir uns getrost beide hätten duzen können, denn respektieren soll man immer und jeden Menschen.
Tagsüber bin ich allein und kann meine Schreibarbeiten verrichten, die der Major zu mir schickt.
In der Remontbasis werden unter der sach- und fachkundigen Leitung von Hermann Lauer, der aus Kehl in Baden stammt und sich immer vor seine Leute stellt und gegenüber den russischen Offizieren seine Meinung durchsetzt - von den Kriegsgefangenen Beuteautos der Wehrmacht repariert und für die russischen Offiziere fahrtüchtig gemacht, die alle gern ein Auto besitzen wollen.
Nur gibt es keine Tankstellen. Allein die Rote Armee und der Staat verfügen über Benzin.
Major Dawidoff gibt von dem ihm zur Verfügung stehenden Benzin kleine Mengen – schwarz - an seine Offizierskollegen ab, damit sie auch ein paar Kilometer fahren können.
Kapitan Goldberg von der Operativ-Abteilung (zu vergleichen mit der Stasi) recherchiert ein ganzes Jahr und zeigt Major Dawidoff an, der sogleich inhaftiert wird und vors Tribunal kommt, wo er zu 10 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wird. Emil Schwabe und ich sind als Zeugen aufgerufen, werden aber zum Glück nicht mehr vernommen.
Major Dawidoff war immer pünktlich und genau in seinen Anweisungen. Ich möchte ihn mit einem preussischen Offizier vergleichen. Trotz seiner Bärbeissigkeit war er mir wohlwollend gesonnen. Kein deutscher Offizier hätte gegen einen Befehl ‚von oben’ verstossen wie er, der mich eigenmächtig auf den Arbeitsplatz zurück geholt hat.
Der neue Chef ist Major Koptjeff. Er ist nicht gut auf mich zu sprechen und sagt: „Goffmann,
ich bin nicht wie Dawidoff. Bei mir geht es ganz korrekt zu, Gramm für Gramm!“ So geht es keine 3 Wochen, dann ruft mich Major Koptjeff und fragt: „Wie hat es Major Dawidoff gemacht?“ Seither lässt er Benzin in viel grösseren Mengen schwarz ausgeben als sein Vorgänger.
Major Koptjeff bestellt sich abends ein Auto und lässt sich durch die nächtliche Stadt fahren, um Frauen und Mädchen aufzugabeln. Eine nette Lehrerin bringt er als angebliche Ehefrau oft mit ins Büro. Nach etwa einem Jahr lässt er mich mit einem LKW zu ihrer Wohnung kommen, um Möbel abzutransportieren. Dann bestellt er ein Kommando Kriegsgefangener zum Renovieren einer Wohnung am Kaiserwald (Meschepark). Schliesslich trifft aus Archangelsk seine richtige Frau mit ihrem 12-jährigen Sohn ein. Und Major Koptjeff ist fortan fast jeden zweiten Tag ‚Offizier vom Dienst’ und lässt sich dann jede Nacht durch die Stadt fahren. Seine Frau und der Sohn kommen bald jeden Abend in sein Büro um das möglichst zu verhindern.
An einem Sonntagabend bestellt er bei mir wieder ein Auto; der Chauffeur wartet stundenlang in der Kälte und fährt dann zurück. Wutschnaubend kommt Major Koptjeff und schimpft zwanzig mal und mehr: “Was hab’ ich dir befohlen?“ Ich muss in sein Büro im zweiten Stock einer Villa am Weidendamm (Ganibu dambis) mitgehen. Dort wiederholt er wieder und immer wieder diese gleiche Frage und immer wieder kann ich nur die gleiche Antwort geben.
Nach vielleicht dreissig Minuten verliere ich die Fassung und antworte wütend: „Soll ich denn Ihre Frau hinunter tragen und ins Auto setzen?“ Da ich Frau Koptjeff mit über zwei Zentnern Lebendgewicht wirklich nicht habe tragen können schnappe ich ihren Sohn, nehme ihn auf die Arme und trage ihn hinunter und schiebe ihn ins Auto.  Das ist dein Aus, denke ich, morgen bist du im Lager oder im Straflager.
Der Chauffeur und ich warten zwanzig Minuten, da stehen beide in der Haustür und Frau Koptjeff steigt zu, während der Major übers ganze Gesicht strahlt. Wir fahren sie zu ihrer Wohnung, von wo ich Mantel und eine Decke mitbringen soll. „Sagen sie meinem Mann, dass er nicht wieder wegfährt; ich werde ihn kontrollieren!“  Ich antworte, dass sie es lieber schreiben möge. Ich gebe dem Major den Zettel, doch er setzt sich – zufrieden mit mir, mit sich selbst und mit der Welt – wieder ins Auto und lässt sich wieder durch die nächtliche Stadt chauffieren.
Im Herbst 1948 wird ein Teil des Fahrzeugparks abgestellt, um alle Lager mit Kartoffeln zu versorgen. Major Koptjeff bekommt die Leitung der Aktion. Er nimmt mich mit. Er, zwei sowjetische Wachtposten und ich beziehen eine Stube. Sein Nachtlager nimmt der Major auf dem nackten Tisch liegend ein; der Telefonapparat ersetzt das Kopfkissen, sein Mantel die Zudecke. Am Morgen schickt er mich zum Organisieren fort. Ich gehe zu mehreren Bauernhöfen und sage, dass ich für den Major einen Hahn oder ein Huhn bringen soll. Sie antworteten mir: „Du kannst eins bekommen oder setz’ Dich und iss, aber für die Russen gibt es nichts!“
Alle Russen versprechen „skorro damoi“, bald seid ihr zu Hause. Es vergehen Jahre; die Ungewissheit wie lange unsere Gefangenschaft noch dauern soll, ist zermürbend. Anfang 1948 wird uns versprochen, dass bis Weihnachten kein deutscher Kriegsgefangener mehr in Russland sei. Wir erleben auch Weihnachten 1948 in der Gefangenschaft, doch dank meiner Russischkenntnisse habe ich bei der Autobasis wenigstens eine Nische, eine warme Stube und freundschaftlichen Kontakt zu lettischen Familien, die uns Deutschen sehr gewogen sind. 
Im Januar 1949 bekomme ich den Auftrag, zehn Kriegsgefangene für einen Heimattransport zu benennen. Als ersten setze ich den Tankwart Emil Schwabe auf die Liste, weil er weit über 5o der älteste von allen ist und sehr unter Heimweh nach seiner Familie in Spandau leidet. Als einzigster wird er von meiner Liste gestrichen. Ich reklamiere das beim Major; er sagt, dass er nichts dafür könne.
Im März  habe ich wieder eine Liste von 10 Gefangenen zu schreiben, und wieder steht Emil Schwabe an oberster Stelle, und wieder wird er von der Liste gestrichen. Und wieder beklage ich mich beim Major Koptjeff.
Der Treibstofflieferer, Herr Kahn, sagt mir im Vertrauen: „Nur nicht daran rühren! Gegen die Anordnungen der Operativabteilung kommt niemand an!“
Im Sommer  soll wieder ein Transport in die Heimat gehen und Major Koptjeff sagt: „Goffmann. du kommst nicht mit; du bleibst bis zu allerletzt!“ Ich antworte: “Towarisch Major, wenn Sie dafür sorgen, dass Emil Schwabe als nächster nach Hause kommt, dann bleibe ich sogar freiwillig bis zuletzt!“
Die nächste Liste fertigt der Major selbst aus und zu meinem Erstaunen sind Emil Schwabe und ich gemeinsam dabei. Persönlich fährt der Major uns zum Verladebahnhof laut singend „Hoffmann damoi pajedisch (Hoffmann. du fährst nach Hause)“.
Wir fahren in Güterwagen mit geöffneten Türen bis Brest-Litowsk. Die sowjetischen Posten schliessen und verriegeln dort die Waggontüren. Sie sagen, dass dies zu unserm Schutz vor polnischen Übergriffen auf Heimkehrertransporte leider notwendig sei. So erreichen wir Frankfurt an der Oder, wo die Waggontüren geöffnet und wir mit Lobestiraden auf die sowjetischen Freunde empfangen werden.
Wir werden wieder registriert, sortiert und getrennt nach Heimkehrerländern. Ich habe das Glück mit anderen Bayern und Schwaben in die amerikanische Besatzungszone zu fahren.
Vor der Grenze müssen wir den Zug verlassen und in Ölsnitz übernachten. Bei einem freundlichen Eisenbahner am Bahnhof kann ich meinen selbst gezimmerten Sperrholzkoffer
mit den wenigen Habseligkeiten, die sich auch in der Kriegsgefangenschaft irgendwie angesammelt hatten, abstellen und am nächsten Morgen wieder in Empfang nehmen.
Mit einem anderen Zug fahren wir über die Demarkationslinie und erreichen das Heimkehrerlager Hof-Moschendorf. Wir bekommen gutes Brot zu essen und ein Paar derbe hohe Schuhe, die mir noch lange Zeit gute Dienste leisten werden. Ich kann ein Telegramm mit der Ankunftszeit an meinen Bruder schicken. Zum ersten Mal bin ich in Bayern, genauer: in Franken. Die Bahnfahrt geht dem Main entlang mit seinen Weinbergen. Mit dem Fahrrad wartet mein älterer Bruder Paul auf meine Ankunft. Ein herzliches Wiedersehen nach mehr als 10 Jahren; schmerzlich nur, weil dies Wiedersehen nicht in unserer pommerschen Heimat geschieht.


1949 - 1990

Vater der Tätowierung und Tattoolegende


Erst mit 30 Jahren aus Krieg und sowjetischer Kriegsgefangenschaft 1949 zurück gekehrt widmete Herbert Hoffmann sich ganz der Tätowierung. Sofort liess er sich von einem Amateur tätowieren, dann von Christian Warlich in Hamburg, Burchett in London, Tatovör Ole in Kopenhagen, Albert Cornelissen in Rotterdam  und vielen anderen mehr.
Herbert Hoffmann hatte genug Talent und eine riesengrosse Begeisterung fürs Tätowieren und tätowierte sehr bald erst mit Hand, später mit Maschinen.
Ihn interessierten nur tätowierte Menschen, und er sprach sie an, lernte sie kennen und wurde ihnen ein zuverlässiger Freund. Er durfte sie photographieren und schrieb auf, was sie in ihrem Leben durchgemacht hatten. Sie wollten alle noch mehr tätowiert sein, hatten jedoch nicht das Geld, um dazu nach Hamburg zu fahren. Zu ihrer Freude liessen sie sich von Herbert Hoffmann tätowieren; er tätowierte immer gratis. Zehn Jahre tätowierte Herbert Hoffmann zumeist Rentner, die sich schon zwischen 1900  und 1930 hatten tätowieren lassen und viele einfache Arbeitsleute ohne Bezahlung zu nehmen.
Christian Warlich sagte ihm, dass er sich gern einen anständigen Tätowierkollegen in seiner Nähe wünsche, denn ihm wurde es zu viel, seine Gäste in seiner Arbeiterkneipe zu bedienen und zugleich seine Kunden zu tätowieren.
Herbert Hoffmann kaufte 1961 das Tätowiergeschäft von Paul Holzhaus am Hamburger Berg 8. Es war ein Abenteuer, denn das Tätowieren war noch immer sehr verrufen und geächtet und die Nachfrage gering. Herbert Hoffmann wusste nicht, ob er vom Tätowieren werde leben können und war entschlossen, tags im Hafen zu arbeiten und abends zu tätowieren.
Christian Warlich, König der Tätowierer,  schickte seine Tätowierkunden zu Herbert Hoffmann mit den Worten: „Geh’ zu meinem Kronprinzen, der macht es ebenso gut!“
In seinem Enthusiasmus fürs Tätowieren war Herbert Hoffmann bemüht, das Tätowieren zu Akzeptanz und gesellschaftlicher Anerkennung zu bringen. Er war genügsam, anspruchslos, bescheiden, fleissig, zuverlässig und vertrauenswürdig. Seine Tätowierkunden kamen immer wieder und brachten neue mit. Die Öffentlichkeit und die Medien wurden auf ihn aufmerksam und schon am 3. Juni 1963 war er Gast bei Robert Lemke im ‚Heiteren Beruferaten’.
Der König der Tätowierer Christian Warlich starb am 27.2.1964. und Herbert Hoffmann gab ihm das Letzte Geleit. Willy Spiegel und Stephan Albrecht hatten ihre Tätowiergeschäfte
geschlossen, und Herbert Hoffman war der einzige Tätowierer in Deutschland und gab seinem Geschäft den Namen: „Herbert Hoffmann - Älteste Tätowierstube in Deutschland“.
In Frankfurt etablierte sich Horst Streckenbach mit einem Tätowiergeschäft und in München Helmut Birnbaum. Herbert-Hoffmann-Schüler waren Eddy, der in Nürnberg  ein Tätowiergeschäft eröffnete und Tobias in Stuttgart.
Für Herbert Hoffmann war es eine Erfüllung, wenn Menschen bis ins hohe Alter ihre Freude an Tätowierungen behalten haben: er belohnte sie, indem er weiterhin Rentner gratis tätowierte. Dennoch war seine kleine Tätowierstube eine ‚Goldgrube’ und die erste Adresse zumindest in Deutschland, aber auch für Schweizer, Österreicher und Italiener. 
1968 schrieb Karl Hermann Richter aus Brambach bei Bad Bellingen und bat, Fotos von Tätowierten zu sehen. Herbert Hoffmann schickte ihm nach und nach seine ganze Sammlung. Dann brach die Postlager-Verbindung ab und Richter schrieb einen Abschiedsbrief an Herbert Hoffmann: das Leben habe für ihn keinen Sinn mehr, und er wolle sich das Leben nehmen.
Herbert Hoffmann telefonierte ihm zur Kunststofffabrik Staufen und bot ihm kostenfreie Aufnahme in seiner Hamburger Wohnung an bis er  einen Neuanfang gefunden habe.
Erst der zweite Fluchtversuch glückte, und Richter stand zu Weihnachten 1970 vor der Tür Hamburger Berg 8 nur mit leichter Aktentasche und dem, was er am Leibe hatte. Wenn er mehr hätte mitnehmen wollen, wäre die Flucht nicht gelungen, sagte er.
Bis 1973 arbeitete Richter in einer Firma in der Wendenstrasse und wohnte unentgeltlich bei Herbert Hoffmann. Dann wurde er arbeitslos, und Herbert Hoffmann lehrte ihn das Tätowieren. Richter war sehr zögerlich und begann erst um 1974 damit, Farbflächen auszufüllen. Herbert Hoffmann hat ihn entlohnt und seinen Urlaub immer grosszügig mit zumeist DM 10.000,-- finanziert,  weil er die jeweiligen Reisen auch für seine Schwester, Frau Olga Hüber und ihre Tochter Irmgard Hüber zu bezahlen hatte.
Herbert Hoffmann hatte 1980 gerade das  Rentenalter erreicht, als er die einmalige Chance erhielt, ein Haus in der Schweiz zu erwerben, das er aber Auflagen gemäss bewohnen musste.  Er übergab das sehr florierende Tätowiergeschäft unentgeltlich an Richter, damit der sich finanziell ‚gesund stossen’ könne. Herbert Hoffmann hat niemals um Auskünfte über den weiteren Geschäftsverlauf gebeten noch Pacht für die Benutzung des Inventars und der Tätowiereinrichtung, noch ein sonstiges Entgelt verlangt oder erhalten!
Um 1983 drängte Richter, sich auch zur Ruhe zu setzen, und Herbert Hoffmann bot seinem Neffen E.G. Götz die Nachfolge an. Er glaubte, in seinem Verwandten die Gewähr für die Aufrechterhaltung seiner Wohnungen zu haben, die Götz ihm auch zugesagt hatte. Das war wichtig, weil Herbert Hoffmann eine „Bewilligung zum erwerbslosen Aufenthalt“ nur für jeweils ein Jahr bekam und auch damit rechnen musste, dass sie einmal nicht erteilt würde und er dann nach Hamburg zurück kehren müsste.
Herbert Hoffmann kannte den Neffen zu wenig, der sich nach einer abgebrochenen Maurerlehre bei der Bundeswehr auf 4 Jahre bis 1983 verpflichtet hatte. Er hat niemals und schon gar nicht seit 1979 tätowiert oder bei Herbert Hoffmann als Tätowierer gearbeitet.
Richtig ist, dass Herbert Hoffmann ihm den Umgang mit den Tätowiergeräten gezeigt und ihm eine komplette Tätowierausrüstung mitgegeben hat, damit der Neffe zu Hause üben und lernen solle. Nachdem seine Frau arbeitslos geworden war, kam Götz am 14. Januar 1984  nach Hamburg und Richter übergab ihm Herbert Hoffmanns Tätowiergeschäft. Mit dem vollkommen eingerichteten Geschäft, dem grossen Stamm treuer und zufriedener Kunden, dem werbewirksamen Firmennamen „Herbert Hoffmann - Älteste Tätowierstube in Deutschland“,  zwei von H. Hoffmann komplett modernisierten Altbauwohnungen zum monatlichen Billig-Mietpreis um  200,-- DM hat Götz ein Riesenvermögen kostenlos erhalten!
1985 hat Herbert Hoffmann noch das ganze Mietwohnhaus in bester St.Pauli-Lage gekauft und es Götz übereignet. Nicht ein einziges mal hat Götz sich dafür bedankt. Als er nun Hauseigentümer war, hat er Herbert Hoffmann aus dem Hause terrorisiert und schliesslich – ohne Grund und Anlass – mit der Polizei aus dem Hause weisen lassen!
Schriftliche Beweise für diesen umfangreichen Sachverhalt liegen bei Herbert Hoffmann vor.
Es ist unwahr, wenn Götz in „Flammend’ Herz“ schreibt, dass Herbert Hoffmann ihn zwingen und von ihm irgend etwas verlangen würde, was er nicht tun könne. Herbert Hoffmann hat noch nicht einmal von ihm gewünscht noch verlangt, dass er als sein Tätowiernachfolger  sich auch tätowieren lassen möge. Wohl hat Herbert Hoffmann ihm eine Liste gegeben von Tätowierkunden, die ihre Tattoos im Vertrauen zu Herbert Hoffmann schon ganz bezahlt hatten aber noch nicht fertig waren. Er hat Götz aufgetragen,  diese bereits bezahlten Tätowierungen fertig zu stellen.
Später hat Herbert Hoffmann einige dieser Kunden wieder getroffen und von ihnen gehört, dass Götz für die Fertigstellung doch noch Bezahlung verlangt und zu Unrecht Geld genommen hat.
Herbert Hoffmann lebt seit 1981 in der Schweiz, rund 1000 Km von Götz entfernt!
Wie und was soll er von Götz verlangen oder gar erzwingen können?
Ebenso abwegig ist es, wenn er von einem Generationskonflikt spricht. Alle wissen, die Herbert Hoffmann kennen, dass er vom Kind bis zum Greis mit Menschen aller Alterschichten sich sehr gut versteht,
Den Streit hat Götz mutwillig vom Zaume gebrochen: weil er zu stolz ist, seinem Onkel  einen Dank auszusprechen, macht er eben Krieg mit ihm!
Auch auf diese Art kann man sich einer Dankesschuld entziehen!
In dieser Zeit hätte Herbert Hoffmann sich gewünscht, dass sein langjähriger Freund Karlmann Richter, der sehr viel Gutes von ihm empfangen und vor dem Selbstmord bewahrt hatte, ihm nur moralischen Beistand gewährt hätte; dann nämlich hätte Götz nicht in dieser Form gegen seinen Onkel vorgehen können.
Wenn Karlmann Richter der Onkel von Götz gewesen wäre, hätte Herbert Hoffmann das treulose Verhalten noch verstehen können. Herbert Hoffmann sieht im treulosen Verhalten von Karlmann Richter einen Verrat an der fünfzehnjährigen Freundschaft.


WARUM BIN ICH TÄTOWIERT?

Lebensbeschreibung von Herbert Hoffmann

Tätowierungen kann man nicht abstreifen wie einen Anzug!  Tätowierungen sind eine Entscheidung fürs ganze Leben. Immer mit ihnen leben zu wollen, setzen Entschlusskraft und Beständigkeit voraus, sowie ein festes Bekenntnis zur Tätowierung. Ich habe diese Eigenschaften; ich stehe zu meinem Wort und zu meiner Tat. Dazu habe ich die Freude an Tätowierungen vom Vater geerbt.
Ich entstamme einer Handwerkerfamilie mit ".Landwirtschaft in einer pommerschen  Kleinstadt (Freienwalde im Kreis Stargard-Saatzig). Die gestrengen Eltern er­zogen meine Geschwister und mich nach ihrem Grundsatz, daß der Mansch zu arbeiten und sich selbst zu ernähren hat.
Ringsum wurde sehr fleißig und sehr viel gearbeitet, oft schwer, oft schmutzig.  Die Leute waren derb, hatten schwielige Hände; ihre Lederstiefel waren vom Acker­boden schmutzig oder vom Stallmist, ihre braunen Manchesterhosen und Arbeitshemden waren alt und von Flicken übersät, die alte blaue Arbeitsmütze war von Sonne und Regen ausgeblichen, ihr Schirm stark abgegriffen. Sie lebten bescheiden und sehr genügsam. Tätowierungen waren bei ihnen verbreitet, einfache blaue Tätowierungen auf Armen und Händen. Manchmal sah aus dem grauen Arbeitshemd auch eine Tätowierung der Brust heraus. Bald gehörten nach meiner Vorstellung Arbeitsleute und Tätowie­rungen zueinander.
Ich empfand eine Hochachtung vor diesen anspruchlosen, arbeitsamen und zufriedenen  Menschen. Ihre blauen Bilder und Zeichen auf ihren Armen und Händen fesselten mich und machten mich immer neugieriger. Ich begann, sie bei jedem Tagelöhner, Guts- und Bauersknecht, bei jedem Kutscher, Schäfer und Stallburschen und bei jedem Steinklopfer, Hilfs- und Straßenbauarbeiter zu suchen. Zuerst blickte ich auf ihre Hände und war erfreut, wenn sie tätowiert waren. Wenn sie mit freien Armen arbeiteten, ergötzte ich mich sehr am wunderbaren Anblick der vielen tätowierten Bilder darauf.
Bei höher gestellten, gut gekleideten Angestellten, Kaufleuten und Beamten sah ich  niemals Tätowierungen. Diese Menschengruppe war mir 'Luft', völlig gleichgültig; ich sah sie gar nicht. Dafür wuchs mein Interesse für die einfachen, oft armen, doch tätowierten Arbeitsleute zusehends. Ich bewunderte sie, ich fand sie mutig, wie sie ihre Einstellung und ihr Bekenntnis zur Tätowierung auf Armen und Händen zur Schau trugen.
Zu gern erinnere ich mich an den Schäfer auf Gut Glashagen,  dessen Hand mit einem großen, blauen Stern geschmückt war und an den Steinklopfer beim Chausseebau, dessen Arme, Hände und Finger ganz blautätowiert waren. Je mehr ich darauf achtete, desto häufiger sah ich Tätowierte selbst in unserer ländlichen, großstadtfernen Gegend.
Später sah ich in Stettin und Berlin noch sehr viele mehr: Straßenfeger, Müllkutscher, Zirkusreisende, Steinsetzer, Pflasterer, Maurer, Speditionsleute, Binnen­schiffer, Seeleute, Rummelplatz- und Hafenarbeiter. Jeden einzelnen habe ich be­wundert und mir gesagt: "Wenn Du nur erst größer bist, so mußt Du  auch werden, so mußt Du Dich auch tätowieren lassen!" Jeden einzelnen habe ich bewundert, be­sonders den alten Kohlentrimmer in Stettin mit dem offenen Arbeitshemd und dem großen Segelschiff auf seiner Brust, sowie an den Bauarbeiter in weißer Manchester­hose und durchsichtigem Netzhemd; er hatte nicht nur seine Arme und Hände, sondern auch Brust, Bauch und Rücken voll tätowiert. Bei solchen Anblicken schlug mir das Herz im Halse vor Aufregung, aber ich war noch sehr jung und getraute mich nicht, sie zu fragen. Und ich wollte doch so vieles mehr darüber erfahren und wissen. Schon interessierte mich nichts anderes mehr als Tätowierungen und Tätowierte.
Als ich um die 18 war, faßte ich endlich Mut und sprach den Hafenarbeiter Otto Schinming in einer Hafenkneipe auf seine Tätowierungen an. "Das ist auf den Händen  nur der Anfang", sagte er, zog die Hosenbeine hoch und zeigte auf seine tätowierten Beine und Füße. "Ich habe alles tätowiert von oben bis unten hin!"
Als Rekrut in Stettin habe ich den durch Arbeitsunfall quer-schnittgelähmten ehemaligen Hafenarbeiter Wilhelm Freitag  kennengelernt, dem mein Interesse an seinen Tätowierungen sehr gut tat. Er erzählte mir aus seinem schweren Leben und daß es zum Berufsstolz der Hafenarbeiter und Ewerführer gehörte, viel tätowiert zu sein. Er sass in einem Rollstuhl, entblößte die Beine und zeigte mir seine stark tätowierten Beine und ebenso war er auch auf Brust, Rücken, beiden Armen, Ohrläppchen und der linken Hand tätowiert.(Fotos Nr. 129) Er gab mir seine Adresse und ich durfte ihn zu Hause besuchen. Aus Dankbarkeit schickte ich ihm aus Rußland meine Verpflegungs- und Marketenderzigaretten, besuchte ihn später und blieb mit ihm und seiner Familie über seinen Tod hinaus befreundet.

Unter den russischen Kriegsgefangenen sah ich oft Tätowierte.  Trotz Verbotes mit ihnen zu sprechen, habe ich ihnen Brot, Ölsardinen und Zigaretten zugesteckt.

Als unsere 122. Infanterie-Division im Sommer 1943 in Reval  eingeschifft wurde, zählte ich dort 14 tätowierte estnische Hafenarbeiter.

Ich war noch über 4 Jahre in sowjetischer Kriegsgefangenschaft und  habe das alles einigermaßen gut und gesund überlebt.

Wohl waren 11 Jahre, die besten im Menschenleben unwiederbringlich verloren, doch nutzlos waren sie nicht. Ich habe viel Not und Elend gesehen, miterlebt und gute, tätowierte Menschen kennen gelernt, mit denen ich mich verbunden fühle.

In der Kriegsgefangenschaft sah ich den Maurer Fritz Bludzun aus Berlin mit einem großen farbigen Drachen auf dem Unterarm  und den damals schon 50-jährigen Bäcker Adolf Pelzer aus Schlawe in Pommern. Er hatte Arme und Brust tätowiert und war auch über mein großes Interesse sehr erfreut und unterstützte sehr meinen Wunsch, selbst tätowiert zu werden. Leider ist er bald mit einem Transport nach Sibirien geschickt worden und wahrscheinlich dort umgekommen. Nach meiner Rückkehr habe ich zwischen 1950 und 1980 immer wieder beim Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes und bei der Heimatortskartei Nordost-Europa und anderen Stellen nach seinem Verbleib - leider ohne Erfolg - geforscht. Niemand weiß von ihm.

Auf einem Holzlagerplatz in Riga sah ich einen alten, ergrauten  Wächter, der beide Handrücken tätowiert hatte. Ich sprach ihn auf Russisch an und er antwortete mir in sehr gutem Deutsch. Der 70-jährige Lette Gustav Wulf war 1905 bei der Meuterei auf dem Panzerkreuzer POTEMKIN dabei und als Seemann bei der russischen Handelsmarine auf Segelschiffen gefahren: dort hatte er sich schon tätowieren lassen. Ich konnte mich jahrelang heimlich zu ihm hinstehlen und mir aus seinem interessanten Leben erzählen lassen. Er war mir sehr zugetan und bot mir bald das DU an. Ich getraute mir als junger Grünschnabel nicht, einen ehrwürdigen Herrn zu duzen, sagte es ihm, daß ich ihn doch lieber mit 'HERR WULF' anreden möchte. Er erklärte mir nun endlich auch, wie tätowiert wird. Ich bat ihn, daß er mich tätowieren möchte. Er wollte es auch tun, doch waren weder Farbe noch Nadeln aufzutreiben. Er fühlte sich verstanden und von mir hochgeehrt, als ich ihm versprach, daß ich mich nach seinem Vorbilde auch meine Hände tätowieren lassen wolle.

Als ich nach meiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft in Hof einen alten Straßenfeger mit tätowierten Händen sah,  habe ich ihn gefragt. Er wußte einen alten Tätowierer, den er mit mir in seine Wohnung bestellte.

Ich hatte eine Zeichnung von dem Glaube-Liebe-Hoffnung-Motiv des alten Herrn Wulf, und das ließ ich mir zur Erinnerung an ihn als erstes auf die gleiche Stelle des Unterarmes tätowieren, wie es auch Herr Wulf hatte.

Das Tätowieren war einfach, und ich erkannte sofort, daß ich dafür auch Talent habe und begann auf Ermunterung des Straßen­fegers gleich damit, ihn und alle seine Söhne und Schwiegersöhne zu tätowieren. Alle und auch ich waren begeistert.

Von nun an fragte ich alle Tätowierte, die ich traf, ob sie sich noch mehr Tätowierungen wünschten. Auf diese Weise habe ich 10 Jahre lang als Amateur viele Leute kostenlos tätowiert und mich dabei fortgebildet, bis ich 1960 von einem 75-jährigen Alttätowiermeister sein Geschäft kaufen und übernehmen konnte.
Ich hatte sehr viel Freude an diesem Berufe und hatte Erfolg. Für die jungen Kunden war ich mittlerweile Vorbild geworden und konnte ihnen stets guten Rat geben. Sie hatten Vertrauen zu mir und hörten auf mich, wie auf väterlichen Rat. Sie respektierten es, daß in unserm Hause weder geraucht noch Alkohol getrunken werden durfte. Sehr viele fanden es sogar gut und versprachen, das Rauchen selbst aufzugeben.
Erstaunlicherweise fanden auch sehr viele Rentner zu mir. Sie hatten zumeist etwas verblaßte Tätowierungen, die aufzu­frischen, zu vervollständigen, zu erweitern oder zu vermehren waren. Ich war selbst verwundert, daß über 80-jährige noch so viel Freude und Begeisterung fürs Tätowieren mitbrachten. Da viele erfahrungsgemäß nur eine karge Rente haben, habe ich von Altersrentnern grundsätzlich keine Bezahlung genommen, sondern sie mit Tätowierungen belohnt. In Würdigung dessen, daß sie und ihre Generation mir einst Vorbilder waren, hielt ich mich dafür in ihrer Schuld.
Es waren dankbare Leute, die mir fortan viele junge Kunden zuge­führt haben, was somit doch noch zu einem guten Geschäft wurde.
Als mein Vater 1952 zu Besuch bei mir war und meine Tätowierungen sah, wurde er nicht zornig, wie ich erwartet hatte, sondern sagte begeistert: "Jung' hast Du schöne Tätowierungen; ich wollte zeitlebens welche haben, bin vor lauter Arbeit nur nicht dazu gekommen!" Schade, daß er bald verstarb und nicht mehr erlebt hat, daß ich Tätowierer geworden bin. Er hätte das Versäumte bestimmt mit Fleiß nachgeholt.
Als mein väterlicher Gönner, Herr Jakob Acker, mit 85 Jahren pflegebedürftig wurde, habe ich mein Tätowiergeschäft, meiner Schwester zuliebe, ihrem Sohn kostenlos übergeben. Er hat sich 'ins gemachte Bett gelegt' und uns alsdann vertrie­ben. Es war der größte Fehler meines Lebens, daß ich auf Vorschuß-Vertrauen gebaut und meine Werte und Rechte aus der Hand gegeben habe.

Herrn Acker habe ich bis zu seinem Tode im 88. Lebensjahre im Rollstuhl gefahren und allein versorgt und zu Hause gepflegt. 1990 erkrankte der alte Seemann Adolf Rocksien und wurde zum Pflegefall. Damit er nicht in ein Pflegeheim mußte, habe ich seine Pflege und Betreuung übernommen und gern durchgeführt. Am 27.11.1990 starb er in seiner vertrauten Umgebung.
Seine Grabpflege ist und bleibt, mein Dienst an einen guten Freund und Menschen.

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